Wie kannst du zu dem werden, was bereits in dir steckt? | Entelechie
Vor kurzem bin ich auf den Begriff der Entelechie gestoßen. Dieser Begriff wurde erstmals von Aristoteles eingeführt. Entelechie ist im Grunde die Potentialentfaltung. Es beschreibt die jedem Organismus innewohnende Kraft, die ihn zur Selbstverwirklichung treibt. Entelechie bedeutet sich selbst zu vollenden. Es ist der Drang das eigene Potential so auszuschöpfen, dass man das wird, was einem anlagebedingt überhaupt möglich ist.
Das würde bedeuten, dass man diesen Vollendungszustand, dieses Ziel, dem man entgegen strebt, bereits in sich hat.
Ein anschauliches Beispiel für die Entelechie ist wohl die Verwirklichung des Schmetterlings durch die Raupe. Der Schmetterling ist die Entelechie der Raupe, da der Schmetterling im Vergleich zur Raupe die vollendete Gestalt erreicht hat.
Die Raupe trägt das Potential des Schmetterlings die ganze Zeit in sich. Die Raupe muss “nur” zu dem werden, die sie bereits ist — dem Schmetterling. Ganz nach dem Motto des griechischen Dichters Pindar und durch Friedrich Nietzsche bekannt geworden:
“Werde, der du bist.”
Bei dem Schmetterling mögen wir das noch leicht nachvollziehen können und denken uns: “Ja klar, das Potential zum Schmetterling ist in der Raupe ja genetisch angelegt. Die Raupe muss ja gar nichts weiter machen. Sie kann ja gar nichts anderes als ein Schmetterling werden. Aber wie ist das bei uns Menschen? Welches Potential können wir entfalten? Was können wir werden?”
Ich finde es ja interessant, dass der Mensch quasi unendliches Potential hat. Durch den Hirnforscher Gerald Hüther habe ich gelernt, dass der Mensch das größte Potential hat, wenn er geboren wird. Da dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren nicht genetisch vorprogrammiert wird, was er werden soll oder werden kann, muss das Gehirn schon vorgeburtlich so viele neuronale Pfade und Netzwerke anlegen, wie nur möglich. Deshalb können wir Menschen nach unserer Geburt quasi nichts. Wir können nicht laufen, nicht sprechen, nicht selbst essen, gar nichts. Ohne die Fürsorge unserer Eltern sind wir nicht überlebensfähig. Deswegen sagt man auch, dass der Mensch bei der Geburt im Grunde noch nicht fertig ist. Dafür können wir aber potentiell alles. Wenn im Tierreich ein Pferd ein Fohlen zur Welt bringt, dann kann dieses bereits kurze Zeit nach der Geburt wackelig auf den Beinen umherstolpern und ein paar Stunden später hüpft es schon auf der Wiese fröhlich der Mutter hinterher. Es ist dem Pferd genetisch vorgegeben, dafür ist sein Potential aber begrenzt und es kann nur sehr wenig werden. Im Gegensatz zum Menschen.
Dieses nahezu unendliche Potential am Anfang unserer Geburt bedeutet aber auch, dass wir mit fortschreitendem Alter immer mehr Potential verlieren. Durch jede Sache, die wir lernen und tief verinnerlichen, wird zwar ein gewisses Potential verwirklicht, dafür geht aber “potentielles Potential” verloren. Indem wir uns gewissen Dingen widmen und die neuronalen Bahnen für diese Dinge verstärken, gehen uns andere, nicht genutzte neuronale Pfade verloren. Potential geht verloren. Das hört sich jetzt vll. traurig an und das ist es vll. auch irgendwie, aber es hat auch etwas Gutes. Was nützt uns unendliches, aber unverwirklichtes Potential? Was nützt es einer Raupe das Potential eines Schmetterlings in sich zu haben aber niemals zu einem zu werden?
Was machen wir also aus diesem in uns angelegten Drang, uns selbst zu vollenden? Wohin können wir dieses Streben, das eigene Potential auszuschöpfen, lenken? Die Antwort des Zen-Buddhismus darauf ist, dass es vollkommen egal ist, was wir machen. Solange wir dieses Etwas mit voller Hingabe, voller Konzentration und echtem, steten Bemühen tun, werden wir uns selbst und unsere Natur zur Verwirklichung bringen. Wir können unser Potential durch profane, alltägliche Dinge wie Geschirr spülen, Zähne putzen oder Gemüse schnippeln entfalten. Es muss nichts Besonderes, außergewöhnliches sein, was wir machen. Wir müssen nur den Augenblick ehren und ihn bewusst und achtsam wahrnehmen. Im Augenblick selbst ist das Ziel bereits enthalten. Wenn wir nicht den Augenblick, diesen Moment, das Hier und Jetzt voll wahrnehmen, dann werden wir niemals irgendein Ziel erreichen. Nichtmal wenn wir dieses objektive Ziel erreicht haben. Wir müssen das Ziel erreichen, bevor wir das Ziel erreichen. Wir müssen unsere vollendete Version sein, bevor wir diese Vollendung erreichen. Und dieses Ziel, diese Vollendung liegt in der Wahrnehmung des Augenblicks. Indem wir nur im Augenblick leben, unserer Tätigkeit und unserer Umwelt voll gewahr sind, werden wir zur Entelechie unserer Selbst.
