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Machen diese Zeiten dich kaputt? | Stress bewältigen — Umgang mit Stress

4 min readApr 13, 2021
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Photo by nikko macaspac on Unsplash

Man könnte in der aktuellen gesellschaftspolitischen Lage meinen, dass das Leben weniger stressig ist, als sagen wir mal vor etwas über einem Jahr. Das Leben wurde heruntergefahren, die Welt dreht sich nicht mehr ganz so schnell, soziale Events — für einige gar Verpflichtungen — haben stark abgenommen. Da könnte man doch meinen, dass auch der Stress abnehmen sollte und wir jetzt relaxter sein sollten?

Ist das aber wirklich so?

Ich habe das Gefühl: Nein. Wenn ich auf mein eigenes Innenleben schaue und mir anschaue wie es einigen Menschen in meinem Umfeld geht — diejenigen, die bereit sind über ihr aktuelles Befinden authentisch zu berichten — und auch sonst so, mich auf Youtube und den sozialen Medien umschaue, bei den Leuten, denen ich folge, habe ich das Gefühl, dass das Stresslevel eher zunimmt. Oder vll. nimmt auch einfach die mentale Gesundheit, bzw. die Resilienz ab?

Ich berichte jetzt erstmal nur über das, was ich zu 100% authentisch und verifiziert berichten kann: über meine eigene, persönliche Erfahrung. Wenn ich gefühlt 24h am Tag über ein Jahr lang mit angstmachenden Horrorszenarien, die sich in ihrer Intensität und Dramatik täglich steigern, bombardiert werde, geht mir das irgendwann automatisch an die Substanz. Langsam aber sicher bekomme ich das Gefühl in der Brust, dass es immer eingeengter wird. Es fühlt sich so an, als ob etwas unterdrückt wird. Die Glut des Lebendigen selbst erlischt gerade. Das mag sich jetzt vll. etwas dramatisch und überspitzt anhören, aber ich weiß sonst nicht wie ich mein Inneres beschreiben soll.

Ich denke, dass ich da durchaus keine Ausnahme bin, sondern eher der Durchschnitt. Wir marschieren zwar alle tapfer weiter, aber die Frage bleibt: wohin?

Woher kommt dieser Stress also? Bin ich tatsächlich gestresster oder ist mein mentales Immunsystem, meine Resilienz geschwächt?

Ich denke, dass es bei mir persönlich eine Mischung aus beidem ist. Wie so oft im Leben, sind die Dinge miteinander verwoben, sie sind holistisch, ganzheitlich und können nicht abgetrennt voneinander betrachtet werden. Resilienz oder Stresskompetenz kann ich nur aufbauen, wenn ich für mich relevante Probleme lösen kann, dadurch die Erfahrung der Eigenwirksamkeit mache und für die Lösung von zukünftigen Problemen auf diesen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann. Wenn ich dann in der Zukunft auf ein ähnliches Problem stoße, dann habe ich die Zuversicht, dass ich etwas ähnliches schonmal erfolgreich gemeistert habe und es diesmal sicherlich auch schaffen werde.

Es gibt auch Probleme, die ich selbst, aus meiner eigenen Kraft heraus nicht lösen kann. Dazu brauche ich die Hilfe anderer Menschen. Wenn ich also weiß, dass es da andere gibt, auf die ich mich verlassen kann und dass wir das schon gemeinsam geschaukelt bekommen, dann kann ich ebenfalls zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Was passiert aber, wenn ich von diesen anderen Menschen abgeschnitten werde? Quasi per Verordnung? Kann ich dann noch ein zuversichtliches Gefühl des Verbundenseins aufbauen? Kann ich dann noch das Vertrauen darin entwickeln, dass es da andere gibt, auf die ich mich verlassen kann, wenn es hart auf hart kommt? Was, wenn mir permanent vermittelt wird, dass ich zu anderen auf Abstand gehen soll, dass diese anderen potentiell immer und allzeit “gefährlich” sind? Wenn nicht wie seit jeher in unserem Rechtssystem verankert, die Unschuldsvermutung gilt, sondern eher von einer Schuldvermutung ausgegangen wird?

Misstrauen, Angst und Unsicherheit schüren Stress. Kein Wunder also, dass ich und nach meiner Beobachtung auch andere sich immer gestresster fühlen.

Doch, es gibt auch Hoffnung. Wie heißt es so schön: In schlechten Zeiten lernen wir mehr über uns als in guten. Schlechte Zeiten bieten uns die Gelegenheit uns in Resilienz zu üben, die Widrigkeiten des Lebens als Prüfstein für unseren Charakter zu benutzen.

Viktor Frankl ein österreichischer Neurologe und Psychiater hat das ultimative Buch zum Thema Resilienz geschrieben mit dem Titel …trotzdem Ja zum Leben sagen.

Darin schildert er seine Erlebnisse und Erfahrungen als Gefangener von vier Konzentrationslagern, darunter auch Auschwitz. Frankl erlebte das Leben in den nationalsozialistischen Gefangenenlagern als ständigen Angriff auf die Würde des Menschen. Er stellte fest, dass er sein Leben nicht kontrollieren konnte, aber er konnte zu jeder Zeit seine Reaktion auf das kontrollieren, was ihm auferlegt wurde. Er konnte einen inneren Halt ausüben, was bedeutete das Leiden auf eine würdevolle Weise zu ertragen. Das Leben wurde nicht nur ein physischer Kampf, sondern auch ein spiritueller Kampf. Ein Kampf, um seine eigene Menschlichkeit vor den entmenschlichenden Bedingungen zu schützen, die ihn umgaben. Frankl schrieb:

In Wirklichkeit gab es eine Möglichkeit und eine Herausforderung. Man konnte aus diesen Erfahrungen einen Sieg machen und das Leben in einen inneren Triumph verwandeln, oder man konnte die Herausforderung ignorieren und einfach vegetieren. Die Art und Weise, wie ein Mensch sein Schicksal akzeptiert und all das Leid, das es mit sich bringt, die Art und Weise, wie er sein Kreuz aufnimmt, gibt ihm — selbst unter schwierigsten Umständen — reichlich Möglichkeiten, seinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen.

Für die Lebenseinstellung eines Viktor Frankl brauchen wir nicht die schreckliche Erfahrung eines Konzentrationslagers. Wir können aus der Geschichte und den unzähligen Erfahrungen lernen, die die Menschen und Generationen vor uns gemacht haben. Und das stimmt mich positiv. Generationen von Menschen vor uns haben schlimmere Dinge durchlebt, als wir sie gerade erleben. Damit will ich die aktuellen gesellschaftspolitischen Zeiten und Probleme nicht klein reden. Es zeigt mir nur, dass der Mensch unglaublich resilient ist, dass er widerstandsfähig ist über die Grenzen dessen hinaus, was er für möglich hält. Wir müssen eine Entscheidung treffen, wie wir leben wollen, welcher Mensch wir sein wollen. Und während wir unseren Charakter an diesem Prüfstein wetzen und formen können wir uns denken:

“Auch dies wird vorübergehen.”

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Alex Koch
Alex Koch

Written by Alex Koch

Ehemann und Vater seiner Wortschöpfungen. Neugieriger Mitmensch. Geschichten Erzähler. Podcaster @Drachenreiten Podcast, YouTuber (Alex Koch)

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